Jahrgang III: Besuch des Meininger Staatstheaters am 19. Oktober 2019 zu Ernst Tollers „Hinkemann“
Herr Deinlein bietet seinem Kurs die Möglichkeit zu einem Besuch am Staatstheater
Als wir im Vorkurs bei Herrn Dr. Deinlein Deutschunterricht hatten, erzählte er uns des Öfteren von Meiningen und seinem Staatstheater. Er besuchte dort häufig Aufführungen, und während unserer gesamten Schulzeit am EAG Bamberg berichtete er uns hin und wieder darüber.
Einmal im Leben sollte man die Stadt Meiningen im Süden Thüringens, am Ostrand der Rhön, gesehen haben. Sie liegt im Dreiländereck von Thüringen, Bayern und Hessen und wurde im Jahr 982 erstmals urkundlich erwähnt. Mit ungefähr 25.000 Einwohnern ist Meinigen ein übersichtlicher Ort mit einer historischen Altstadt, schönen Fachwerkbauten, mittelalterlichen Wassergräben und einzigartigen Kulturzentren wie das Meininger Staatstheater.
Dieses ist ein sogenanntes „Vier-Sparten-Theater“. Es bietet Musiktheater, wozu Opernauf-führungen, Operetten und Musicals gehören, Schauspiel, Konzert, Puppentheater und Ballett-Auf-führungen.
Das Meininger Staatstheater gilt als die „Wiege“ des bis heute praktizierten modernen Regietheaters. Die bedeutenden Neuerungen der Meininger in der Theater- und Orchesterarbeit werden als die „Meininger Prinzipien“ bezeichnet und stehen für jeden Theaterschauspieler an den Schauspielschulen Deutschlands als Pflichtfach im Stundenplan.
Am 19. Oktober war es soweit: Herr Dr. Deinlein organisierte für uns die sehr preiswerten Eintrittskarten und die Fahrt. So fuhren wir gemeinsam nach Meiningen und sahen uns das Drama „Hinkemann“ von Ernst Toller an.
Ernst Toller, jüdischer Herkunft, lebte von 1893 bis 1939. Er war Schriftsteller und Politiker und einer der maßgeblichen Vertreter des literarischen Expressionismus. Vor allem aber war er politisch in der linkssozialistischen Szene aktiv. So hatte er eine Zeitlang den Vorsitz der bayerischen USPD, wurde 1919 verhaftet und zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Während dieser Zeit schrieb er unter weiteren Werken den „Hinkemann“, ein Drama über einen im Ersten Weltkrieg versehrten Soldaten.
Tollers Bücher waren die ersten, die nach Hitlers Machtübernahme verbrannt wurden, und Tollers Name stand auf der ersten Liste jener, denen die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt wurde. Er hielt sich unter anderem in der Schweiz, Jugoslawien, England und mehreren anderen europäischen Ländern auf, bis er schließlich 1936 in die USA auswanderte.
Toller litt zeitlebens an Depressionen, die sich durch den ausbleibenden Erfolg in den USA verstärkten. Am 22. Mai 1939 nahm er sich in New York das Leben. Er wurde anonym bestattet, was unter anderem dazu beitrug, dass niemand bis in die späten siebziger Jahre von Ernst Toller wusste. Seine Werke gerieten nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Vergessenheit. Erst in der ehemaligen DDR wurde man wieder auf ihn aufmerksam, 1978 erschienen seine gesammelten Werke.
Die Tragödie wurde zuerst im Hanser Verlag in München unter dem Titel „Der deutsche Hinkemann“, dann „Der Hinkemann“ und schließlich als „Hinkemann“ veröffentlicht. Sie besteht aus 3 Akten zu jeweils 1, 4 und 2 Szenen, ist also kurz, aber sehr mitreißend!
Der Protagonist Eugen Hinkemann, dem im Ersten Weltkrieg das Geschlecht weggeschossen wurde, ist dadurch sensibel für das Leid und die Gefühlskälte anderer Menschen geworden. Er greift seine Schwiegermutter an, als die einem Distelfinken mit glühender Stricknadel die Augen blendet, weil er danach angeblich viel besser singe. Seine Frau Grete ist darüber entsetzt, mehr hilflos aber steht sie dem Verhalten ihres Ehemanns gegenüber, der seit der Rückkehr aus dem Krieg ein ganz anderer geworden ist. Sein Freund Paul Großhahn, dem er alles anvertraut, was ihn bewegt, nutzt Hinkemanns armselige Situation aus und macht sich an dessen Frau Grete heran.
Währenddessen nimmt Hinkemann bei einem Budenbesitzer auf dem Rummelplatz eine Arbeit als Schausteller an. Dabei muss er sich, muskulös wie er ist, dem Publikum zeigen, während er lebendigen Mäusen und Ratten die Kehle durchbeißen und etwas Blut der Tiere schlucken soll. Dafür erhält er achtzig Mark, was es dem Hinkemann wert ist, um seiner Frau - wenn schon nicht mehr als Ehemann - wenigstens Materielles bieten zu können.
Als seine Frau Grete und sein Freund Großhahn zusammen auf den Rummelplatz gehen, sehen sie Hinkemann. Bei Grete kommt schnell Mitleid mit ihrem Mann auf und sie sagt sich von Großhahn los. Hinkemann bekommt die Anwesenheit der beiden aber nicht mit.
In der Kneipe am Abend unterhalten sich die Gäste über soziale Ungerechtigkeiten und den Unsinn des Krieges. Hinkemann erzählt seine eigenen Kriegserlebnisse und die Verletzung als die Geschichte eines anderen.
Bei einem weiteren Kneipenbesuch erscheint auch Großhahn, und weil er neidisch auf Hinkemann wegen dessen Frau ist, verlacht er Hinkemann, erzählt öffentlich dessen Verletzung und sagt, Hinkemann sei kein Mann, er sei ein Eunuch. Daraufhin verlacht die Kneipengesellschaft den Hinkemann.
Nebenbei erfährt er von seiner Mutter, dass sein Vater gar nicht tot sei, sondern die Familie verlassen habe und jetzt zum Sterben nach Hause gekommen sei. Sie wolle ihn bis zu seinem Tode bei sich behalten und für ihn sorgen, aber sie werde nicht hinter seinem Sarg hergehen (was bedeuten würde, ihm die letzte Ehre zu verweigern), das sei ihre Rache.
Hinkemann stellt Grete zur Rede, weil er von Großhahn erfahren hat, dass sie ihren eigenen Ehemann auf dem Rummelplatz verlacht habe. Grete rechtfertigt sich und erzählt ihrem Mann, dass sie ihn zwar betrogen habe, das aber sehr bereue und ihn immer noch sehr liebe. Was Großhahn dem Ehemann erzählte, sei nicht wahr, sondern gelogen.
Einerseits liebt Hinkemann seine Frau sehr und ihr Betrug kränkt ihn. Andererseits weiß er genau, dass er seiner Frau nicht mehr das geben kann, was er als liebender Ehemann im Stande sein sollte, zu tun und will sie deshalb freigeben. Dies wiederum will Grete nicht, sie will bei ihm bleiben.
Letztendlich ist aber ihre Verzweiflung so groß, dass sie sich in den Tod stürzt. Hinkemann, dessen Welt seit dem Weltkrieg aus den Fugen geraten ist, sagt zum Schluss: „Jeder Tag kann das Paradies bringen, jede Nacht die Sintflut.“
„Hinkemann“ wurde 1924 in Berlin sechzigmal aufgeführt. Es ist Tollers erfolgreichstes und meist gespieltes Bühnenwerk.
In ungefähr neunzig Minuten wurde es in Meiningen von den Schauspielern Wort für Wort wiedergegeben. Nichts wurde an dem Stück geändert, weggelassen oder verfälscht, was wir als eine große Leistung empfanden. Besonders Vivian Frey, der die Hauptrolle des Hinkemann grandios verkörperte, hinterließ bei uns einen tiefen Eindruck. Aber auch alle anderen Schauspieler, die bis zu sieben Rollen spielen mussten, kamen nicht einmal ins Stocken! Nora Hickler, die die Rolle von Grete Hinkemann verkörperte, stellte vier weitere Rollen dar. Als Hinkemanns Ehefrau und Großhahns Geliebte zeigte sie alles an Gefühlen, Gestiken und Mimik, wie man es sich nicht besser hätte vorstellen können!
Das Bühnenbild war einfach: alle Schauspieler waren in hellblauen Kleidern, Hosen, Röcken und Mänteln und weißen Hemden gekleidet. Auf der Bühne befand sich nur eine Wand mit Drehtüren und ein die Küche darstellender Spültisch. Aus einem etwas größeren Rohr, das aus der Decke bis in die Bühne herunterragte, schoss hin und wieder ein kräftiger, schmutziger Wasserschwall auf den Bühnenboden, was die Zuschauer in der ersten Reihe etwas zu spüren bekamen – sie wurden ein wenig nass!
Der Sinn dieser Einlage blieb uns verborgen – wir vermuten, es handelte sich um die Darstellung des Bösen, der Verwerflichkeit, die über die Menschen kommt.
In der Einführung, die es vor der Aufführung gab, informierte die Dramaturgin Anna Katharina Setecki über Ernst Toller und seine Werke und erklärte, wie sehr das Geschehen im „Hinkemann“ in die heutige Zeit passt.
Viele Zitate aus dem Stück treffen heute umso mehr zu, als auf der ganzen Welt Millionen von Menschen in zur Zeit über sechzig Kriegen ums Leben kommen, nicht nur am Körper verletzt werden, sondern ebenso im Tiefsten ihrer Seele – aber es scheint niemanden zu kümmern, keiner stoppt diese sinnlosen Kriege!
Und Kriegsverletzungen sind längst keine „Ehrensache“ mehr! Heißt es doch in der Tragödie, als die Kneipengesellschaft von Hinkemanns tatsächlichem bleibenden körperlichen Schaden erfährt, dass sie ihn auslachte und ihm demonstrierte, „dass die gepriesene Menschlichkeit nur eine hohle Phrase war“.
Auch beste Freunde lassen erst in einer solch tragischen Situation ihren wahren Charakter erkennen, so wie Paul Großhahn im zweiten Akt des Stückes, als er in der dritten Szene auf dem Rummelplatz zu Grete sagt: „Aber das ist ja erbärmlicher Betrug! So sieht der deutsche Held aus! Einer ohne … ein Eunuch… Hahahaha!“
Den Unsinn eines Krieges beschreibt Hinkemann im dritten Akt so: „… wer hat ein Recht, den anderen zu richten? – der Franzos, der mich zum Krüppel schoß, der Neger, der mich zum Krüppel schoß… - Ob er noch leben mag? Und wie wird er leben? … Ist er blind, ohne Arm, ohne Bein? Er tat mir weh, und ein anderer tat ihm weh…“.
Was aber jedem zu denken geben muss, sind Hinkemanns letzte Sätze in diesem Stück: „Wer aber tat uns allen weh? ... EIN Geist sind wir, EIN Leib. Und es gibt Menschen, die sehen das nicht. Und es gibt Menschen, die haben das vergessen. Im Krieg haben sie gelitten und haben ihre Herren gehaßt und haben gehorcht und haben gemordet! ... Alles vergessen… Sie werden wieder leiden…“.
Kurz nach Ernst Tollers Tod brach der Zweite Weltkrieg aus – die Menschheit hatte wieder alles vergessen!
Dieser Theaterbesuch wird uns sicher lange im Gedächtnis bleiben, nicht nur wegen der eindrucksvollen Aufführung, sondern auch wegen des uns allen bisher unbekannten Ortes und seiner Umgebung.
An dieser Stelle bedankt sich der Jahrgang III recht herzlich bei Herrn Dr. Deinlein, der sich viel Arbeit mit der Organisation dieses Abends gemacht hat. Er versteht es, auf diesem Weg nicht nur unser Wissen anzureichern, sondern auch die Offenheit und Neugier in uns für kulturelle Ereignisse zu wecken.
Vielen Dank dafür!
Leonora Günther
EAG III / 2019